Die staatlich organisierte Trennung von Menschengruppen hat viele willkürliche Gesichter. Sie kann hart enthemmt auftreten, wie einst in Südafrika, oder eher subtil taktierend, wie heute in Deutschland, wo man den Schein noch wahren will. Die deutsche Politik und „Zivilgesellschaft“ präsentieren sich dabei überzeugend als Vertreter von verlogenen Doppelstandards: Man sonnt sich selbstverliebt im Kampf gegen (rechten) Rassismus einerseits und betreibt zugleich Apartheid im eigenen Land, an der eigenen Bevölkerung. Ein schizophrenes Deutschland ist im Limbus einer obszönen Übersteigerung seiner „historischen Verantwortung“ und dem lächerlichen Rückfall in geisteskranke Reflexe von Hass und Hetze gefangen. Es gibt wieder Menschen, die man offen schurigeln, abkanzeln und verachten darf, ohne damit in die Fänge der Gesinnungspolizei zu geraten – die Verfemten müssen nur weiß, kritisch, deutsch und ungeimpft sein.
Nirgends sonst wird ein zur Schau gestellter Minderheitenschutz und eine, diesem Ansinnen entgegengesetzte, „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ so gleichzeitig, eitel und prahlerisch von ein und derselben meinungsführenden Clique betrieben, wie bei uns. Nirgends wird dieser Widerspruch so unverhohlen diskursabwehrend von „Oben“ orchestriert und so kriecherisch-minutiös von Unten exekutiert, wo man sich gern als vorbildlich hervortun möchte und im Rausch der moralischen Überlegenheit die Ambivalenz des eigenen Werteverständnisses bereits „weg-geboostert“ hat. Heinrich Mann und sein Untertan lassen grüßen.
Die Impf-Kampagne ist zum Lackmustest der Toleranzfähigkeit unserer Gesellschaft geworden. Nicht wenige Solidar-Geimpfte liebäugeln mit dem „Zwang für Alle“ und andere durchaus mit Lagern für Ungeimpfte als probate Mittel im Kampf gegen die Unbotmäßigkeit des freien Willens. Radikal und schnell offenbart sich das Menetekel, so deutsch, dass es einem hochkommt. Die Agitprop-Abteilung der abgewählten Kanzlerin – und Ihro Gnaden selbst – mahnen weiterhin obsessiv und phantasieren von „2G“, der vierten Welle und dem vierten drohenden Zusammenbruch des Gesundheitssystems, als könnten sie damit den Phantomschmerz ihrer eigenen demokratisch verfügten Amputation etwas Bleibendes entgegensetzen. Aber es scheint, als wüchse mit der neuen Regierung dem Lockdown-Clown das Bein wieder nach, mit dem er den Ungeimpften weiter in den Untertanen-Arsch treten will.
Für die meisten Impf-Aktivisten, die ihre Antirassismus-Kampagnen und Ungeimpften-Phobie für widerspruchsfrei vereinbar halten, steht der kollektivistische Staats-Anspruch gegen die freiheitlich-individuelle Entfaltung eines selbstbestimmten Lebens. Das ist der Punkt: Das Impfen wird nicht direkt erzwungen, aber es wird im Rahmen der kollektiven Verantwortung zur Selbstverpflichtung und Selbsthingabe. Wer sich dem widersetzt, ist nicht nur ein Egoist – der glaubt, sich selbst nicht schützen zu müssen –, sondern geradezu eine Gefahr für die Braven, Solidarischen und Eingehegten. Früher impfte man sich vor allem für sich selbst, heute impft man sich auch für alle – und opfert als „Scholz’sches Versuchskaninchen“ in ritueller Freiwilligkeit seine Unversehrtheit. Hier liegt der Urvorwurf, mit dem die Schuldprojektion beginnt, die zur Absonderung führt: Die Ungeimpften verweigern dem Kollektiv den Zugriff auf Sein und Bewusstsein. Doch schlimmer noch: Wer sich hat impfen lassen, hat tatsächlich seine Unschuld bereits verloren. Diese bewusste Entscheidung ist nicht rückgängig zu machen.
Der Vorstandsvorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery befürwortet Apartheid, wenn er den bundesweiten Ausschluss von Ungeimpften durch konsequente Durchsetzung der 2G-Regel im öffentlichen Raum anmahnt. Solchen Forderungen liegt so etwas wie das Verleumder-Motiv der Brunnenvergifter zugrunde. Denn seine „Argumentation“ gibt vor, es seien die Ungeimpften, durch die sich die vierte Welle so dramatisch entwickele. Für Montgomery gibt es also eindeutig Schuldige, die – das unterstellt er – das angeblich nicht abebbende Siechtum der Pandemie allein verantworten. Es ist wieder salonfähig, auf „Schuldige“ zu deuten, die der Gesellschaft schaden. Die alte, knarrende Schublade habitueller Gehässigkeiten gegen Andersdenkende steht also wieder offen. Wir waren der Illusion verfallen, man hätte sie ein für alle Mal verschlossen und den Schlüssel weggeworfen.
Wo führt solches Denken hin? Erwarten wir Bürger vom Staat wirklich eine General-Fürsorge und darf der Staat im Umkehrschluss von uns eine entsprechende Duldungs-Garantie verlangen? Nein, weder das eine noch das andere ist richtig und weise. Es widerspricht in eklatanter Weise der demokratischen Tradition der Bundesrepublik Deutschland, wenn der Staat die Eigenverantwortung des Bürgers gegen ein Sicherheitsversprechen eintauscht, das mit Freiheitsrechten bezahlt wird.
Manchmal lässt es doch verwundern, wie hellsichtig und freiheitlich manche Prominente in der grassierenden Debatte um Geimpfte und Ungeimpfte sprechen, die man eigentlich dort gar nicht verortet hätte. Sahra Wagenknecht, Richard David Precht, Georg Baselitz. Ja, es gibt sie, die Intelligenten, denen man kritisch gegenüberstehen kann, die aber dennoch die Widersprüche benennen, die einem selbst zu schaffen machen; die keine Angst davor haben müssen, als intellektuelle Eintagsfliegen in die Geschichte einzugehen, so wie Angela, Karl und Jens, die „2G“ zu ihrem persönlichen „davai-davai“ erkoren haben und es gerne hätten, dass die Nicht-Hilfreichen endlich gecancelt und wie Aussätzige verbannt werden. Noch gibt es Hoffnung, dass das Geraune um die „bösen Ungeimpften“ nicht zum guten Ton wird.
In einem Interview beim RBB-Sender RadioEins, der von sich behauptet „nur für Erwachsene“ da zu sein, wollte diese Woche ein Moderator von der Intensiv-Krankenschwester am Vivantes-Klinikum Neukölln, Anja Voigt, ein „staatsradiotaugliches“ Statement zu ungeimpften Patienten erhalten. Das wollte nicht ganz klappen, obwohl die Fragestellung ausreichend suggestiv angelegt war. Die folgende Frage-Antwort-Konstellation offenbart das Verhältnis von medialem Wunschdenken und staubtrockener Wirklichkeit.
Moderator: „Vor einem Jahr konnten Corona-Patienten nichts dafür, wenn sie auf der Intensiv-Station landeten. Heute hätten die meisten – Sie sagen es ja selbst – es verhindern können, wenn sie sich hätten impfen lassen. Sie helfen allen, das ist ja klar, dennoch stehen Sie am Ende dieser Kette und müssen die sogenannte Freiheit der Ungeimpften ausbaden. Wie groß ist ihr Frust darüber?“
Anja Voigt: „Ich glaube, da denken wir gar nicht drüber nach, weil man arbeitet einfach. Wenn ich mir da jetzt jedes Mal einen Kopf darüber machen würde und mich ärgern würde… Das kann ich nicht machen. Ich habe auch andere Patienten, die irgendwie schuld sind an ihrer Erkrankung und trotzdem behandele ich sie. Also das spielt für uns keine Rolle.“
Ihnen ein schönes Wochenende!
Ihr Fabian Nicolay
Herausgeber
Quelle: achgut.com